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Stop Thinking

In der Alexandertechnik, so wie ich sie gelernt habe, liegt ein wichtiger Fokus auf dem Denken als Mittel, unbewusste Haltungs- bzw. Verhaltensmuster zu durchschauen und aufzulösen, bzw. neue Reaktionsweisen („means-whereby“) einzuüben. Es wird gelehrt, dass das eigene Fühlen unzuverlässig ist (F. M. Alexander: „faulty sensory appreciation“, unzuverlässige Sinneswahrnehmung), und wir daher das Werkzeug des Denkens verwenden müssen, um zu einer gewissermaßen objektiveren Selbstwahrnehmung zu gelangen, die unserem Körper dann weniger schadet als unsere bisherige unbewusste und gewohnte Verhaltens- oder Bewegungsweise.

Ich würde inzwischen eher behaupten: Das Denken ist das Problem, nicht die Lösung. 

Was geschieht, wenn wir uns, statt auf unsere unzuverlässige Sinneswahrnehmung zu vertrauen, auf das Denken verlassen? Wir lassen unsere Sinneswahrnehmung noch mehr und vollständiger zurück. Wenn wir auf die Evolution der Tierwelt, eigentlich sogar der Pflanzenwelt, schauen, wird sofort klar, dass das Verneinen der Sinneswahrnehmung ein kontraevolutionärer Schritt ist und damit irgendwie nicht gesund sein kann. Das Leben auf der Erde hat sich analog zur Entwicklung sensorischer Fähigkeiten entwickelt. Die ersten kleinen Würmchenwesen lernten, Licht von Dunkelheit zu unterscheiden, Kälte von Wärme, sich selbst als getrennt von ihrer Umgebung zu erkennen. Das vorläufige Ende oder Ergebnis dieser Entwicklung sind hochkomplexe Tiere (und Menschen), die dank ihrer weit entwickelten Propriozeption auf vier oder gar zwei Beinen laufen, auf Bäume klettern, Tanzen, Schwimmen und noch viel mehr können – ohne darüber nachzudenken.

Ich liebe es, Katzen zuzuschauen, wie sie sich vollkommen elegant durch die Welt bewegen, ein fließender kleiner Körper, der, immer mit dem Kopf voran, sich wie ein Windhauch durch die physische Welt bewegt, ohne Stocken, Stolpern oder irgendwelche An– oder Verspannungen.

Wie macht die Katze das? Und was unterscheidet sie in diesem Aspekt von uns Menschen?

Die Katze denkt nicht, wie wir denken, da sie dafür gar nicht das passende Gehirn besitzt. Das scheint ihr, was Koordination und Beweglichkeit angeht, einen beträchtlichen Vorteil zu verschaffen. Wie der berühmte Satz vom Tausendfüßler, der plötzlich beginnt, nachzudenken, wie er eigentlich seine vielen Füße setzt, und dann gar nicht mehr vom Fleck kommt. Hätte der Tausendfüßler ein menschliches Gehirn, wäre er längst ausgestorben (Vielleicht ist das auch schon mal passiert?). Nur die dummen Tausendfüßler haben es durch die Evolution geschafft.

Was ist nun mit dem Menschen und seinem Gehirn geschehen? Aus irgendeinem Grund, und es scheint ja auf einer gewissen Ebene funktioniert zu haben, wenn man sich die absolute Vorherrschaft des Menschen über die gesamte Erdfauna und –Flora anschaut, haben wir einen extrem komplexen Frontalcortex entwickelt, ein Gehirnareal, das in dieser Form bislang kein anderes Tier erreicht hat. Und in den speziellen Umständen unserer Entwicklung wurde diese Fähigkeit, zu denken, offenbar zu einem unschlagbaren evolutionären Vorteil. Wie Terence McKenna formuliert: „Give me a problem, I am a thinker, I can solve it!

Interessant finde ich, dass diese Entwicklung in erdhistorisch sehr kurzer Zeit stattgefunden hat. Bis  vor etwa 3 Millionen Jahren war die menschliche Gehirngröße nicht wesentlich verschieden von allen anderen Affenarten. Dann wuchs sie quasi schlagartig an und verdreifachte sich, während alle anderen Affen um uns herum mehr oder weniger auf gleichem Niveau blieben. Irgendetwas ist da passiert, dessen Grund wir letztlich nicht kennen. Wir kennen bloß die Auswirkungen, deren vorläufiges Ergebnis die Zivilisation ist, in der wir jetzt leben.

So wie es aussieht, hat sich in dieser rasanten evolutionären Entwicklung des Menschen eine Art Spalt aufgetan, der zwar nicht groß genug war, eben diese Entwicklung zu stoppen oder wesentlich zu beeinflussen, aber doch heute offen zu Tage tritt und für das Leben des Menschen ein echtes Problem darstellen kann: Wir haben dank unseres gewaltigen Gehirns gelernt, denkend in unsere Selbstwahrnehmung einzugreifen, und mit unserem fantastischen neuen Großhirn in Aufgaben unseres Kleinhirns, des motorischen und sensorischen Zentrums, einzugreifen (Also genau das, was der Tausendfüßler zum Glück (für ihn) nicht kann). Mehr noch: dank des limbischen Systems, welches für Erinnerung, v.a. emotionale Erinnerung, zuständig ist, können wir die Gedanken, mit denen wir in unser Bewegungszentrum eingreifen, sogar abspeichern und unbewusst verfügbar halten, d.h. diese Gedanken können dann von Emotionen und Erinnerungen ausgelöst werden, ohne dass wir sie selbst noch aktiv denken müssen.

Was hier geschieht, ist also eine Vermischung von Kleinhirn- und Großhirnaktivität, von sensorisch-motorischer Selbststeuerung und abstraktem, strategischen Denken. Das Problem: Unser Kleinhirn hat schon lange, bevor es das Großhirn bzw. den Frontalcortex überhaupt gab, ganz wunderbar für sich allein funktioniert, dafür ist es ja gemacht bzw. geworden. Das abstrakte Denken war dann zwar ein evolutionärer Vorteil, minderte indirekt aber unsere sensorisch-motorischen Fähigkeiten ungemein. Wir können zwar Denken wie die Weltmeister, Raketen bauen und komplizierte Blog-Texte verfassen, hinken aber motorisch im wahrsten Sinne des Wortes hinterher und bewegen uns eigentlich viel weniger gut als all unsere Nachbarsaffen, Katzen und Tausendfüßler, obwohl das hirnphysiologisch überhaupt nicht notwendig wäre – das Kleinhirn ist ja nach wie vor da.

Diesen Konflikt bringt der Weisheitslehrer Barry Long auf den Punkt, wenn er sagt: „You cannot think when you are in your senses“. In einer Weise scheint das wie das genaue Gegenteil des Alexanderschen „Thinking in movement“, ist aber nur folgerichtig, wenn wir unsere biologische Entwicklung betrachten. Der Mensch ist ein zwiegespaltenes Wesen geworden: Der Denker und der „Fühler“ sind zwei recht unabhängig voneinander agieren könnende Teile des einen Wesens. Das fiel auch schon Johann Wolfgang von Goethe auf, den ich hier kurz einwerfen mag (aus Faust):

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
die eine will sich von der andern trennen:
Die eine hält in derber Liebeslust
sich an die Welt mit klammernden Organen;
die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
zu den Gefilden hoher Ahnen.

Was tun wir nun mit diesem Konflikt? Offensichtlich scheint wohl, dass das althergebrachte Alexandersche „Denken in Bewegung“ die Lage eher verschlechtert. Eine Alexandertechnik-Lehrerin hörte ich das Wort „Thoving“ bzw.  „Minking“ benutzen, um die Verschmelzung von Denken und Bewegung als eine erstrebenswerte Qualität auszudrücken. Damit wird also versucht, die Funktionen von Groß- und Kleinhirn irgendwie miteinander zu verschmelzen und in Einklang zu bringen, ohne zu beachten, dass diese beiden Gehirnteile ja aus gutem Grund zwei sehr unterschiedliche Bereiche mit sehr unterschiedlichen Funktionen sind.

Es muss also klar sein: Das Denken gehört zum Denken, und das Fühlen, Wahrnehmen (Propriozeption) und Koordinieren gehört nicht zum Denken. Wenn ich meinen Körper optimal koordinieren will, darf ich dabei nicht denken, weil ich dann nicht fühle, was ich tue. Wenn ich fühlen will, wie und wo und was mein Körper ist, darf ich nicht darüber nachdenken, was ich fühle. Ich muss es einfach fühlen, so wie ein Regenwurm sich fühlt und sich deshalb auch bewegen kann, aber nicht darüber nachdenkt. Das ist unser sensorisch-motorisches evolutionäres Vermächtnis, welches in jedem Körper nach wie vor vollständig angelegt ist. Wir benutzen es bloß nicht mehr so viel, und da dem Denken in unserer Zivilisation so viel mehr Wert beigemessen wird als dem Fühlen, gibt es im Alltag insgesamt wenig Anlass, diesen Teil unseres Wesens mit- und weiter zu entwickeln.

Barry Long’s Version der Alexandertechnik könnte also in etwa lauten: „Stop thinking while moving!

In meinem Verständnis von Alexandertechnik geht es also nicht darum, Denken und Fühlen/Bewegen zusammen zu bringen, sondern zu erkennen, dass sie von Grund auf und von Natur aus verschiedene Dinge sind. Wenn ich lerne, meinen Körper sich selbst bewegen zu lassen, ohne mit meinem Frontalkortex in diese Abläufe einzugreifen, dann kann er sich selbst optimal koordinieren. Wenn ich mich von Alexander’s „quicken the thinking!“ löse und stattdessen meinem Körperbewusstsein den Raum gebe, den es zum Funktionieren braucht,  kann ich das volle Potential meines menschlichen Gehirns erst nutzen. Das ist der Schritt vom Denken zur Intelligenz. Unser ureigenes Wesen ganz, d.h. in allen Teilen, anzuerkennen, ist der intelligenteste Weg, uns selbst gut zu gebrauchen, und das Denken loszulassen, der Anfang tatsächlicher menschlicher Intelligenz.

Der Alexanderlehrer unterstützt diesen Prozess, der letztendlich nur in jedem Lernenden selbst stattfinden kann, indem er darauf aufmerksam macht, wo überall Denkstrukturen in die eigentliche Bewegung eingreifen, vor allem unbewusste, an Emotionen und Erinnerungen gekoppelte Denkstrukturen, die sich der bewussten Aufmerksamkeit des Lernenden naturgemäß entziehen.

So kann mit der Zeit eine Art Rückerinnerung stattfinden an unsere eigentliche biologische und wesenhafte Struktur: Wir können und dürfen Denken UND Fühlen, wir haben das Erbe der perfekten Koordination aller Säugetiere in uns, und gleichzeitig die einzigartige Fähigkeit zu abstraktem Denken auf Ebenen, von denen kein anderes Säugetier auch nur zu träumen wagt.

Fünf Prinzipien der Alexandertechnik

Patrick McDonald, direkter Schüler von F. M. Alexander und ein wichtiger Lehrer seiner Technik, stellte 5 Prinzipien auf, die seiner Ansicht nach das Wesen der Alexandertechnik darstellen. Ich übersetze die Bezeichnungen der Prinzipien hier nicht, erläutere sie aber aus meiner persönlichen Sicht, da ich sie in meiner eigenen Arbeit als hilfreich empfinde.

1) Recognition of the Force of Habit

Das ist der erste und wesentliche Schritt, um mit dieser Arbeit zu beginnen: Wir lernen zu erkennen, daß es eine sog. “Kraft der Gewohnheit” gibt, und daß sie auch auf uns wirkt, in jedem Augenblick und ausnahmslos. Gewohnheiten sind sämtliche bewußt oder unbewußt erlernten Muster, die wir in uns tragen, sowohl körperlich als auch mental. Unsere Körperhaltung ist möglicherwesie von unseren Eltern inspiriert, als wir Laufen lernten und versuchten, die Erwachsenen in unserer Umgebung nachzuahmen. Unser Selbstbild ist geprägt von der Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind, unser Wissen von der Schule, die wir besucht haben, unsere Meinungen von Diskussionen, die wir geführt haben und unsere Ängste von Erlebnissen, die wir im Lauf unseres Lebens hatten.

Zu wieviel Prozent ist unser Verhalten, unsere Weltbild und selbst unser körperlicher Zustand Produkt unserer eigenen, freien Entscheidungen, und zu wieviel Prozent Ergebnis von äußeren Einflüssen?

Allein der Mut, sich dieser Frage zu stellen, öffnet eine Tür in einen neuen Raum von Wahrnehmung, von Ehrlichkeit mit mir selbst und der Möglichkeit, nach Veränderung überhaupt zu suchen. Dies ist der Ausgangspunkt unserer Reise: Wenn wir nicht wissen, wo wir sind, ist es essentiell, zumindest dieses Nichtwissen zu akzeptieren. Solange wir glauben, irgendwo zu sein, können wir keinen vernünftigen Versuch machen, einen Weg zu finden, der irgendwo hinführt, wo wir vielleicht hin wollen.

2) Inhibition & Nondoing

“Inhibition” im Sinne Alexanders ist das Nicht-Reagieren auf einen Stimulus. Das ist nicht so einfach wie es klingt: Sicherlich kann ich zum Beispiel einem Befehl, der mir gegeben wird, nicht gehorchen. Aber ist das wirklich Nicht-Reagieren? In den meisten Fällen reagiere ich eben doch, wenn ich ehrlich zu mir bin. Vielleicht reagiere ich abwehrend und führe den gegebenen Befehl nicht aus, oder entscheide, mich taub zu stellen. In jedem Fall ist mein Geist und mein Nervensystem beschäftigt damit, diesen Befehl zu verarbeiten, und reagiert darauf mit den Reaktionsmöglichkeiten, die ich mir selber zurechtgelegt habe oder zugestehe. So werde ich manche Reaktionen vielleicht von vornherein ausschließen (z.B. den Befehlenden anzuschreien oder zu erschießen), andere liegen mir sehr nah (weil ich sie z.B. aus meiner Kindheit kenne), an manche denke ich gar nicht erst.

Vollständige Inhibition bzw. “Nondoing” (Nicht-tun) erleben wir wenn wir einen Sack Reis anschreien. In der Regel wird er in keiner Weise reagieren und ungestört mit seiner üblichen Tätigkeit fortfahren, nämlich ein Sack Reis zu sein. Da der Mensch leider (!) sehr viel komplexer strukturiert ist als ein Sack Reis, fällt es uns auch sehr viel schwerer, sehr einfache Dinge wie z.B. Inhibition praktisch umzusetzen. Wir sind in Wirklichkeit sogar ständig und ohne Unterlaß damit beschäftigt, auf Stimuli aus unserer Umwelt irgendwie zu reagieren, und erlauben uns kaum, unser ur-eigenes Wesen und Lebendigsein zu erleben, also uns selbst zu sehen, wie wir wären, wenn wir grade nicht auf etwas anderes reagieren oder Bezug nehmen würden.

Zen-Meditation ist ein Weg, in Inhibition zu sein und “Nondoing” zu praktizieren. Meditation erlaubt uns, uns selbst anzuschauen, wie wir ohne den ständigen und störenden, zumindest aber beeinflussenden, Input aus unserer Umwelt wären und existierten. Allerdings wählt der Meditierende dafür in der Regel Stille und Abgeschiedenheit. Alexanders Idee war, Inhibition genau in der Bewegung, im Tun und Lebendigsein zu entwickeln und erleben. Seine Annahme war, daß der Mensch natürlicherweise ein sich bewegendes, erlebendes und interagierendes Wesen ist. Wie passen aber demnach Interaktion und Selbstwahrnehmung zusammen?

3) Recognition of Faulty Sensory Awareness

Was ist eine “fehlerhafte Sinneswahrnehmung”? Ganz einfach die Tatsache, daß die Dinge nicht immer das sind, was sie zu sein scheinen. Leider, aber offensichtlich gilt das auch für uns selbst: Wir sind nicht immer das, was wir zu sein glauben, und wir tun nicht immer das, was wir zu tun glauben. Warum ist das so? Alexander sagt: Weil wir uns so mit unseren Gewohnheiten identifizieren, daß wir annehmen, wir seien, was wir gelernt haben (statt was wir tatsächlich sind), und nehmen daher mit unseren Sinnen quasi aus den Augen dessen wahr, der wir glauben zu sein, auch wenn das gar nicht stimmt.

Praktisches Beispiel: Wenn ich “gelernt” habe, meinen Kopf nach vorne zu schieben, z.B. um mich zu ducken und klein zu halten (vielleicht aus Angst vor einem strengen Vater?), dann ist diese Haltung mir über die Jahre so vertraut geworden, daß ich sie als “natürlich” wahrnehme. Wenn ich stehe, fühle ich mich “aufrecht”, auch wenn jeder Außenstehende mich als schief oder vornübergebeugt beschreiben würde, und die schlichte Tatsache, daß ich nicht umfalle, bestätigt mir meinen Eindruck noch. Wenn mich nun jemand anleiten würde, tatsächlich aufrecht zu stehen, d.h. mit dem Kopf über den Schultern anstatt davor, würde ich mir sehr verbogen und unbalanciert vorkommen und reflexhaft zu meiner gewohnten Haltung zurückkehren, da ich mich dort sicher fühle.

So erzeugen unsere Gewohnheiten einerseits die “fehlerhafte Sinneswahrnehmung”, andererseits verstärkt letztere unsere Gewohnheiten und macht es uns praktisch unmöglich, sie zu verändern. Was tun?

4) Sending Directions

“Anweisungen geben” ist ein ziemlich technischer und wenig poetisch anmutender Begriff, ganz im Gegenteil zu seiner Bedeutung, so wie ich sie verstehe. Im Grunde können wir sagen, daß “Anweisungen geben” einfach das Gegenstück zu “Anweisungen erhalten” ist, also zu dem unter 2. beschriebenen unvermeidlichen Reagieren auf Impulse. Wenn ich mir selbst eine Anweisung gebe, übernehme ich Kontrolle über (und Verantwortung für) mich selbst. Rudolf Steiner beschreibt in der “Philosophie der Freiheit” eindrücklich, daß die Fähigkeit, aus uns selbst heraus Entscheidungen für uns selbst zu treffen und danach zu handeln, den Kern unseres freien und verantwortlichen Handelns ausmacht, uns also letztendlich zu Menschen macht, die nicht nur maschinenhaft Ausführende sind, sondern selbst-schaffend, kreativ und in desem Sinne “frei”sein dürfen und können.

In seinen früheren Schriften beschreibt Alexander das “sending directions” als rein technische Abfolge von bestimmten Anweisungen, die er sich selber gibt. Das ist zwar wenig poetisch, beschreibt aber bei genauerem Hinsehen genau dies: Wie können wir denn, wenn wir so von Gewohnheiten durchdrungen sind, daß wir uns selbst gar nicht akkurat wahrnehmen können, uns überhaupt eine Anweisung geben und dabei sicher sein, daß diese von uns selbst stammt und nicht von unserem “Gewohnheits-Selbst”? Die simple Tätigkeit einer Anweisung für uns selbst wie z.B. Alexander’s “Ich erlaube meinem Kopf, sich nach vorne und oben auszurichten” ist ein geradezu dramatischer Akt von Selbstermächtigung, wenn er denn tatsächlich aus einer freien Entscheidung heraus geschieht und nicht als Reaktion auf einen äußeren Impuls (wie z.B. der elterliche Befehl “Sitz gerade!”). Wie aber können wir uns darüber sicher sein?

Meine Erfahrung sagt mir, daß wir das nicht können. Was wir tun können, ist, uns in dieses Spiel, diesen Tanz der Auseinandersetzung mit uns selbst einzulassen, und das reicht völlig aus, um einen innerlichen Lernprozess anzustoßen. Wir werden immer irgendwo “fehlerhafte Sinneswahrnehmungen” haben, immer irgendwo automatisch auf Impulse von außen reagieren, und immer irgendwie von unseren Gewohnheiten geprägt bleiben. Aber wir können uns darüber bewußter werden, vielleicht öfters erkennen, wenn wir grade wieder ungewollt und unbewußt reagieren, und so ein bischen klarer über uns selbst werden, weniger reaktiv und abhängig von unserer Umwelt und etwas mehr fähig, wirklich eigene Entscheidungen zu treffen und “Anweisungen zu geben”.

5) Primary Control

Mit “Primärkontrolle” beschrieb Alexander ein bestimmtes Verhältnis von Kopf, Nacken und Rücken zueinander.  Auch das wieder klingt sehr anatomisch, es sei denn, wir schauen auf die diesem Verhältnis zu grunde liegenden Faktoren.

Jede unwillkürliche, unbewußte oder ungewollte Reaktion auf einen äußeren Impuls geht mit einer körperlichen Reaktion einher. Wenn ich von jemandem gerufen werde, schrecke ich auf, wenn ich bedroht werde, ducke ich mich, wenn ich über ein Problem nachgrüble, kauere ich mich zusammen. In jedem Fall löst der Impuls unser grundlegendes Angstreaktionsmuster aus, auch wenn wir in den meisten Situationen keine bewußte Angst spüren. Jede Anforderung von außen verunsichert uns, und sei es nur für einen winzig kleinen Moment und ohne daß wir das bemerken würden. Jede Verunsicherung aber beeinflußt auf der körperlichen Ebene die Koordination von Kopf, Nacken und Rücken. Dieser uralte “primäre Angstreflex” war im Lauf der Evolution des Menschen nützlich und überlebenswichtig, da er einen “Stopp”-Befehl durch den ganzen Organismus sandte, sobald eine Gefahr erkannt wurde. Jede Antilope in der Savanne reißt noch heute instinktiv ihren Kopf in den Nacken, sobald sie ein Zeichen  von Gefahr wittert.

In einer Zeit voll ständiger Eindrücke von außen, medialer Überflutung, stressvoller Kommunikation und stetiger Ansprüche, die an uns gestellt werden, löst dieser Angstreflex im Grunde ständig aus und wird damit zur Gewohnheit. Wir nehmen ihn nicht mehr wahr und halten unsere angespannte Grundeinstellung für “normal”, für natürlich.

Alexanders geniale Entdeckung war, daß der Angstreflex, wie er sich im Nackenbereich manifestiert, in beide Richtungen beeinflußbar ist: Unsere Reaktionen beeinflussen unseren Nacken, aber unser Nacken beeinflußt auch unsere Reaktionen. So begann Alexander, mit seinen Händen zu arbeiten und seinen Klienten durch Berührung zu zeigen, wie sich ein “freier”, d.h. nicht angespannter Nacken anfühlt. Solange der Nacken des Klienten sich in diesem gelösten Zustand befindet, ist es ihm nicht möglich, in den Angstreflex zu verfallen, bzw. sobald er das doch tut, wird der Nacken sich wieder verkürzen; allerdings wird dem Klienten dies nun, aufgrund der Berührung, bewußt werden.

So ist es mit der Alexandertechnik möglich, auf eine sehr simple Art sehr komplexe und weitgreifende körperliche und seelische Anspannungen bewußt zu machen. Mir fällt ein Beispiel aus meiner eigenen Arbeit ein, wo es für eine Klientin, wenn ich ihren Nacken, während sie stand, in einer entspannten Lage hielt, es unmöglich wurde, sich auf einen Stuhl zu setzen. Der Impuls, sich zu setzen, war für sie so sehr  mit innerlichem Stress oder Unsicherheit verbunden, daß sie ihren Nacken dabei jedesmal einziehen musste. Als wir es schließlich doch fertigbrachten, daß sie sich mit einem nicht zusammengezogenen Nacken auf den Stuhl setzen konnte, war das für sie eine vollkommen neue und tief berührende Erfahrung.

Die “Primäre Kontrolle” funktioniert dann, wenn wir mit einem freien und entspannten Verhältnis von Kopf, Nacken und Rücken durchs Leben gehen können, das heißt, wenn wir nicht hilflos den Impulsen aus unserer Umwelt ausgeliefert sind und darauf reagieren müssen. Einerseits ist sie also ein Ausdruck vom Funktionieren der vorigen vier Prinzipien, andererseits ein Werkzeug, um (zumindest Aspekte) der übrigen Prinzipien zu erfahren und zu erlernen.

Rückenschmerzen …

… oder Die Kunst auf zwei Füßen zu stehen

Immer wieder werde ich gefragt, was die Alexandertechnik eigentlich bei Rückenschmerzen tun kann, und auch in meine Praxis kommen Menschen mit Rückenschmerzen aller Art: Mit steifem Nacken, Schulterschmerzen, Bandscheibenleiden und anderen Rückenbeschwerden.

Die erste und eigentlich so offensichtliche Frage, die ich mir selber stelle, wenn jemand mir von seinem Rückenleiden berichtet, ist: Warum hat dieser Mensch Rückenschmerzen? Oder: warum hat er sich den Rücken oder die Bandscheibe verletzt? Und die Antwort ist oft nicht: “Weil ich diesen Wassereimer angehoben habe” oder “weil ich mich beim Skifahren verletzt habe”, und auch nicht “weil ich jeden Tag 8 Stunden im Büro sitze”. Die eigentliche Antwort kann tiefer liegen, und das, was wir als den Auslöser unseres Problems sehen, ist oft nur ein Hinweis auf die Strukturen, die unseren Schmerzen zugrunde liegen.

Insofern ist die für mich interessante Frage hier nicht wie mache ich es (=das Problem) weg?, sondern wo kommt es her? Daher bin ich auch kein großer Fan von Rückengymnastik oder Muskelübungen, die das alleinige Ziel haben, Rückenschmerzen zu eliminieren. Ein starker Rücken kann sich selbst auch stark schaden, wenn wir ihn falsch, das heißt entgegen seiner eigentlichen Funktion, benutzen.

Die menschliche Wirbelsäule ist das zentrale Balance- und Stabilitätssystem des Körpers in aufrechter Haltung, und in diesem Sinne biologisch einzigartig – bei keinem anderen Wirbeltier muß sie eine so filigrane und präzise Steuerung der aufrechten Haltung und des aufrechten Gangs ermöglichen. Sie hält das Gewicht des Torsos ausgeglichen über dem Becken und den Beinen, jongliert den Kopf wie einen Ball auf ihrer obersten, dünnen Spitze und koordiniert dieses komplexe Verhältnis sogar in Bewegung, im Laufen, Springen und Tanzen. Wenn wir die Arme nach vorn strecken, verlagert der Rücken unser Gewicht automatisch exakt genau so weit nach hinten, daß wir nicht nach vorne umfallen. In der Regel bemerken wir dieses perfekt agierende System nicht einmal.

Was geschieht nun, wenn wir, bewußt oder unbewußt, in diese natürliche und von unserem Nervensystem autonom gesteuerte Balance eingreifen? Wenn wir beispielsweise den Kopf weiter nach vorn strecken, als es der Körperbalance entspricht? Genau das Gleiche wie im Beispiel mit den Armen – der Rücken muß mit Muskelkraft die Balance nach hinten verlagern. Was geschieht nun aber, wenn wir den Kopf ständig zu weit vorne tragen (z.B. weil wir glauben, dann besser sehen zu können. z.B. am Computerbildschirm)? Der Rücken muß ständig kompensieren, es kommt also zu einer chronischen Muskelspannung, die die Wirbelsäule statt in ihrer Mitte ein klein wenig neben ihrer natürlichen Balance halten muß. Wenn solch ein Zustand langsam entsteht und dann über lange Zeit bleibt, reagiert unser Nervensystem darauf nicht mehr, wir fühlen diese Verschiebung also nicht. Eine Möglichkeit, diese Spannung noch wahrzunehmen, wäre vielleicht visuell (vor einem Spiegel), oder durch Feedback von Anderen (“Du stehst aber verspannt da!”). Alleine können wir sie nicht lösen, da wir ja nicht einmal spüren, daß wir sie verursachen.

Nun gibt es viele hundert Möglichkeiten, den eigenen Körper nachhaltig aus der Balance zu bringen, das Verschieben des Kopfes ist nur eine, wenn auch prominente Variante. Jedesmal, wenn wir uns an einer Stelle unbewußt und dauerhaft verspannen (z.B. die Schultern hochziehen, weil wir dann besser am PC tippen können, den Brustkorb rausstrecken, weil wir uns dann größer oder stärker fühlen, die Hüfte nach vorn schieben, weil uns das stabiler vorkommt, oder tausend andere Dinge), muß der Körper an einer anderen Stelle kompensieren, um nicht einfach umzufallen – diese Kompensation wird zur Normalität und wir spüren sie nicht mehr. Über die Zeit entstehen daraus Rückenschmerzen, deren Herkunft wir nicht mehr verstehen, weil nicht mehr wahrnehmen können.

Machen Sie einen einfachen Test – stellen Sie sich aufrecht auf beide Füße hin, und lassen Sie ihre Fußgelenke los. In welche Richtung fallen Sie um? Die Antwort ist unwichtig, aber interessant ist, daß wir in der Regel nur deswegen stehenbleiben, weil wir unsere Gelenke festhalten. Physiologisch ist ständiges Festhalten aber genau das, was ein Gelenk eben nicht tun soll – es soll Bewegung erlauben, dafür haben wir es ja. Weil wir aber andere Körperteile (bevorzugt den Nacken/Kopfbereich) chronisch festhalten, müssen die Fußgelenke eben dagegen halten, anstatt ihrer eigentlichen Funktion nachkommen zu können. Genau das Gleiche geschieht mit dem Rücken und genau genommen überall im Körper.

Hier wird die Alexandertechnik für mich zu einem komplexen und tatsächlich auch unterhaltsamen Puzzlespiel – wenn ich meinen Nacken loslasse, bringt mich das erstmal aus der Balance, weil irgendein anderer Teil ja immer noch kompensiert und mich jetzt plötzlich aus der Balance wirft. Also fühle ich, daß ich meinen Nacken festhalten muß, um stehen zu bleiben, was aber gar nicht stimmt: Ich muß bloß den Nacken UND noch irgendetwas anderes, z.B. die Hüfte, den unteren Rücken, die Schultern etc. loslassen. Daraus ergibt sich ein neues Verhältnis, eine neue Situation, und vermutlich werden sich im Lauf dieses Prozesses weitere Spannungsmuster zeigen. Je länger wir dieses Spiel spielen und lernen, die entsprechenden Spannungen zu unterlassen, um so mehr nähern wir uns der ursprünglichen, physiologisch gesunden Körperbalance, und um so freier, entspannter und schmerzfreier kann unser Rücken (und nebenbei der restliche Körper) werden.


Ich unterrichte die Alexandertechnik in Berlin-Neukölln. Bei Fragen oder für eine Terminvereinbarung können Sie mich gerne kontaktieren.

Intent und Richtung

In der Alexandertechnik sprechen wir viel von “Richtungen” bzw. “Richtungen geben”. Was ist das eigentlich? Das englische Original-Wort “giving directions” kann sowohl “Richtung” als auch “Anweisung” bedeuten. Ich spreche in diesem Zusammenhang gerne von “Absicht” bzw. “Intent”.

Wenn wir einen anderen Menschen berühren, geschieht das mit einer Absicht, welcher Art auch immer. Der Mensch, der berührt wird, hat seinerseit auch Absicht(en), ist ein hochkomplexes Wesen aus Körper, Emotionen, Geist, Willen, Erinnerungen … Der Körper wird aus Intent (Absicht) geformt. Der ursprünglichste Intent in einem Menschenleben ist die Zeugung, die erste Zellteilung – die Absicht der Zelle, einen neuen Menschen zu schaffen. Die DNA ist ein Katalog von Absichten, die unseren Körper in der Form verwirklicht, wie wir ihn kennen. Außerdem wird unser Körper von unseren eigenen Gedanken geformt und gebildet, von unseren Erfahrungen, von dem, was und wie wir von Kindheit an lernen, “aufwachsen”. Unser gesamtes geistiges und seelisches Selbst spiegelt sich in der körperlichen Existenz wieder, und unser Körper ist unser Ausdruck unseres persönlichen Lebens und unseres Glaubens über uns selbst.

Insofern ist Berührung zwischen zwei Menschen einerseits eine Berührung von Körpern, andererseits eine Berührung von Absichten auf der nichtkörperlichen Ebene. In diesem Sinne funktioniert das “giving directions” in der Alexandertechnik: Wir berühren den Körper, treffen aber durch unseren Intent auf den Intent des Anderen. Und in dieser Berührung oder Begegnung wird der Intent beider Menschen offenbar, sicht- und spürbar. Wenn ich meine Hand auf die Schulter eines Anderen lege, und mein klarer Intent ist, daß die Schulter sich aus dem Rumpf heraus lösen darf statt sich hineinzuziehen, wird dieser Intent der Energie begegnen, die die betreffende Schulter bislang einzieht und fest macht. Dem Klienten kann in dem Moment bewußt werden, daß sein bisheriger (unbewußter!) Intent war, seine Schulter einzuziehen. In dem Augenblick des Bewußtwerdens bekommt er Entscheidungsfreiheit, kann den bisherigen Intent seines Körpers (der vielleicht eine Schutzreaktion auf Stress oder Angst war, oder aber etwas ganz anderes) betrachten und neu verhandeln. Es stehen ihm mindestens zwei Möglichkeiten offen: Bei seinem alten Muster zu bleiben, oder das Muster auszuprobieren, das ihm durch die Hand des Anderen angeboten wird. Außerdem könnte er auch etwas ganz Neues ausprobieren (was erfahrungsgemäß eher selten ist, aber vielleicht um so wertvoller).

In diesem Sinne ist Berührung in der Alexandertechnik nicht physisch manipulierend wie z.B. Massagetechniken oder Ostheopatische Verfahren, selbst wenn es sich für den Klienten manchmal so anfühlen kann. Der Alexandertechnik-Lehrer arbeitet nicht direkt an der (um-)Formung des physischen Körpers, sondern kommuniziert mit dem inhärenten Intent des menschlichen Körpers, sich selbst optimal auszurichten. Will heißen: Der Körper weiß, dank seiner DNA, sehr gut, wie er optimal funktioniert, welche Körperteile wohin gehören und wie miteinander bewegt werden. Durch unsere Erfahrungen, unser Lernen, unser Anpassen an unsere Umwelt aber überfahren und vergessen wir immer mehr von diesem ursprünglichen Wissen. Wir lernen “aufrecht zu sitzen”, und halten uns dementsprechend, selbst wenn unser Körper vielleicht etwas anderes möchte. Wir passen uns an die Anforderungen unseres Jobs an und sitzen 8 Stunden am Tag auf Stühlen, selbst wenn der Körper sich vielleicht eine ganz andere Bewegung wünscht. Wir ducken uns unbewußt vor dem Stress unseres Alltag weg und ziehen den Kopf ein, selbst wenn der Körper seinen Kopf eigentlich gerne aufrecht oben auf der Wirbelsäule hätte – aber wir fühlen das nicht mehr, wir haben uns blind gemacht für das, was wir ursprünglich hätten sein und werden sollen. In dem Moment, wo der (hoffentlich) klare Intent des Alexandertechnikers unserem eigenen unbewußten Intent begegnet, nehmen wir diese Dinge plötzlich wahr.

Hier ist die Alexandertechnik also ein (möglicher) Weg, wieder mehr in Kontakt mit dem eigenen Selbst zu kommen. Dadurch können sich viele chronische Verspannungen, Schmerzen und Probleme sehr leicht und ohne physische Eingriffe lösen. Gleichzeitig kann dieser Prozess auch sehr herausfordernd, und manchmal fast überfordernd sein: Wenn wir erleben, daß wir unseren Körper jahrelang anders wahrgenommen haben als er eigentlich ist, kann das unter Umständen Angst, Selbstzweifel und Trauer auslösen. Diese Reaktionen gehören zu diesem Bewußtwerdungs- und Heilungsprozess natürlicherweise dazu und lösen sich über kurz oder lang in mehr Leichtigkeit und Lebensfreude auf.

Was ist Alexandertechnik … und was ist sie nicht?

Wenn in Gesprächen das Thema darauf kommt, daß ich die Alexandertechnik unterrichte, geht oft direkt ein Ruck durch die Reihen der Zuhörer, und zwar im ganz wörtlichen Sinne. Fast jeder, der das Wort schon einmal gehört hat, verbindet es mit einer quasi besenstielartigen Haltung – der Kopf wird in der Regel nach hinten gezogen, man sitzt auf der Stuhlkante und macht es sich ganz allgemein so unbequem wie möglich.

Was das mit Alexandertechnik zu tun hat, weiß ich nicht, es zeigt aber, daß das Allgemeinwissen über dieses Thema recht begrenzt, und vor allem oft falsch ist.

Also: Es geht in der Alexander-Technik NICHT um Körperhaltung. Ebenso ist es KEINE Therapie von Rückenschmerzen und und KEIN Trick, mit dem Musiker schneller musizieren können. All diese Dinge können zwar im Lauf des Unterrichts auftreten, sind dann aber nur Begleiterscheinungen dessen, was eigentlich geschieht.

Das, was der alte Frederick Matthias Alexander entwickelte und uns überliefert hat, ist im Wesentlichen ein System, wie wir mit Impulsen aus unserer Umwelt bewußt umgehen können. Das klingt erst einmal sehr abstrakt.

Ein Impuls in diesem Sinne kann so ziemlich alles sein, was wir mit Körper und Geist wahrnehmen können. Auf der simpelsten Ebene kann das ein Befehl sein, den wir bekommen und dann ausführen. Wenn wir den gleichen Befehl immer wieder ausführen, wird er uns so vertraut, daß unser Ausführen quasi automatisch wird. Wir denken gar nicht mehr darüber nach. Nach einem ähnlichen Muster funktioniert der berühmte “Pawlowsche Hund“: Da er immer dann Futter bekam, wenn ein Glöckchen klingelte, reagierte sein Körper nach einer Weile automatisch mit Speichelfluß, wenn auch nur das Glöckchen klingelte, ohne daß es Futter gab. Die Reaktion hat sich also verselbständigt.

Wenn wir genau hinschauen, finden wir solche Muster praktisch überall in unserem Leben, ob morgens beim Aufstehen (wir putzen unsere Zähne, ohne es überhaupt zu bemerken), beim Autofahren (wer denkt noch über das Kupplung-Treten nach?), und im Umgang mit unseren Partnern und Mitmenschen (wie viele “Ja, Schatz” sind wohl bewußt ausgesprochen und gefühlt?). Das ist auch erstmal gar nicht schlimm: Unbewußte Muster sparen Denk- und Reaktionszeit und schaffen Raum für anderes (Wir müssen unsere Unterhaltung beim Autofahren also nicht jedesmal unterbrechen, wenn wir die Kupplung treten).

Problematisch kann es werden, wenn nicht nur die Reaktion, sondern auch der Befehl selbst sich ins Unterbewußtsein verschiebt. Dann beginnen wir, auf Befehle/Stimuli automatisch zu reagieren, von denen wir gar nicht (mehr) “wissen”. Nehmen wir zum Beispiel einen Musiker, der beim Spielen immerzu krampfhaft seine Schultern nach oben zieht (vielleicht hat ihm das ein Lehrer unter der Idee von “aufrecht sitzen” beigebracht). Das ist ihm nicht bewußt, er hält es für seine “normale” Haltung beim Spielen. Mit der Zeit bekommt er Schulter- und Rückenprobleme und glaubt, das Spielen des Instruments bereite ihm diese Schmerzen. Das ist zwar falsch, für ihn aber die einzig mögliche Erklärung, da die Schmerzen immer dann auftreten, wenn er spielt. Sein Körper reagiert auf einen Impuls, den der Körper ihm selber gibt. So hat er sich selbst überlistet und hat mit seinem Bewußtsein keine Möglichkeit mehr, an die eigentliche Ursache der Schmerzen zu kommen.

Hier kann nun die Alexandertechnik ansetzen: Im Grunde ist es die Aufgabe des Alexander-Lehrers, unbewußte, störende Muster des Klienten aufzuspüren und zurück ins Bewußtsein zu bringen. Es geht NICHT darum, diese Muster zu löschen, und im obigen Fall nicht darum, die Schultern des Musikers zu manipulieren/massieren/korrigieren. Wenn es dem Musiker aber gelingt, wahrzunehmen, daß er die Schultern in der Tat hochzieht, dann kann er sie auch Kraft seines eigenen Bewußtseins loslassen. Er erhält also die Entscheidungsfreiheit zurück, die Schultern entweder zu verspannen oder nicht zu verspannen, eine Option, die er vorher nicht (mehr) hatte.

Im “wirklichen” Leben geht diese Technik natürlich weit über das Beheben von Problemen beim Musizieren hinaus, und betrifft nicht nur körperliche, sondern auch mentale und seelische Muster. Vielleicht haben wir in der Kindheit gelernt, daß es “schlecht” ist, bestimmte Dinge zu tun, und seither vermeiden wir unbewußt alles, was auch nur so ähnlich aussieht wie dies verbotene Ding, bemerken aber schon längst nicht mehr, das wir das tun. Vielleicht haben wir uns verletzlich gefühlt und unseren Bauch angespannt, und das so oft, bis der Bauch sich automatisch verspannt, jedesmal wenn wir uns verletzlich fühlen, ohne das wir das überhaupt noch merken. Wir bemerken vielleicht nur, daß wir Magen- oder Verdauungsprobleme bekommen, können die Ursache aber nicht finden.

In dem Sinne kann Alexandertechnik vielerlei körperliche Leiden lindern und beheben, aber eben nicht dadurch, daß diese Leiden direkt angesprochen/behandelt werden, sondern dadurch, daß der Klient in die Lage versetzt wird, sich selber durch Bewußtmachen seines unbewußtes Handelns weniger selbst zu stören oder zu schaden.