In der Alexandertechnik, so wie ich sie gelernt habe, liegt ein wichtiger Fokus auf dem Denken als Mittel, unbewusste Haltungs- bzw. Verhaltensmuster zu durchschauen und aufzulösen, bzw. neue Reaktionsweisen („means-whereby“) einzuüben. Es wird gelehrt, dass das eigene Fühlen unzuverlässig ist (F. M. Alexander: „faulty sensory appreciation“, unzuverlässige Sinneswahrnehmung), und wir daher das Werkzeug des Denkens verwenden müssen, um zu einer gewissermaßen objektiveren Selbstwahrnehmung zu gelangen, die unserem Körper dann weniger schadet als unsere bisherige unbewusste und gewohnte Verhaltens- oder Bewegungsweise.
Ich würde inzwischen eher behaupten: Das Denken ist das Problem, nicht die Lösung.
Was geschieht, wenn wir uns, statt auf unsere unzuverlässige Sinneswahrnehmung zu vertrauen, auf das Denken verlassen? Wir lassen unsere Sinneswahrnehmung noch mehr und vollständiger zurück. Wenn wir auf die Evolution der Tierwelt, eigentlich sogar der Pflanzenwelt, schauen, wird sofort klar, dass das Verneinen der Sinneswahrnehmung ein kontraevolutionärer Schritt ist und damit irgendwie nicht gesund sein kann. Das Leben auf der Erde hat sich analog zur Entwicklung sensorischer Fähigkeiten entwickelt. Die ersten kleinen Würmchenwesen lernten, Licht von Dunkelheit zu unterscheiden, Kälte von Wärme, sich selbst als getrennt von ihrer Umgebung zu erkennen. Das vorläufige Ende oder Ergebnis dieser Entwicklung sind hochkomplexe Tiere (und Menschen), die dank ihrer weit entwickelten Propriozeption auf vier oder gar zwei Beinen laufen, auf Bäume klettern, Tanzen, Schwimmen und noch viel mehr können – ohne darüber nachzudenken.
Ich liebe es, Katzen zuzuschauen, wie sie sich vollkommen elegant durch die Welt bewegen, ein fließender kleiner Körper, der, immer mit dem Kopf voran, sich wie ein Windhauch durch die physische Welt bewegt, ohne Stocken, Stolpern oder irgendwelche An– oder Verspannungen.
Wie macht die Katze das? Und was unterscheidet sie in diesem Aspekt von uns Menschen?
Die Katze denkt nicht, wie wir denken, da sie dafür gar nicht das passende Gehirn besitzt. Das scheint ihr, was Koordination und Beweglichkeit angeht, einen beträchtlichen Vorteil zu verschaffen. Wie der berühmte Satz vom Tausendfüßler, der plötzlich beginnt, nachzudenken, wie er eigentlich seine vielen Füße setzt, und dann gar nicht mehr vom Fleck kommt. Hätte der Tausendfüßler ein menschliches Gehirn, wäre er längst ausgestorben (Vielleicht ist das auch schon mal passiert?). Nur die dummen Tausendfüßler haben es durch die Evolution geschafft.
Was ist nun mit dem Menschen und seinem Gehirn geschehen? Aus irgendeinem Grund, und es scheint ja auf einer gewissen Ebene funktioniert zu haben, wenn man sich die absolute Vorherrschaft des Menschen über die gesamte Erdfauna und –Flora anschaut, haben wir einen extrem komplexen Frontalcortex entwickelt, ein Gehirnareal, das in dieser Form bislang kein anderes Tier erreicht hat. Und in den speziellen Umständen unserer Entwicklung wurde diese Fähigkeit, zu denken, offenbar zu einem unschlagbaren evolutionären Vorteil. Wie Terence McKenna formuliert: „Give me a problem, I am a thinker, I can solve it! “
Interessant finde ich, dass diese Entwicklung in erdhistorisch sehr kurzer Zeit stattgefunden hat. Bis vor etwa 3 Millionen Jahren war die menschliche Gehirngröße nicht wesentlich verschieden von allen anderen Affenarten. Dann wuchs sie quasi schlagartig an und verdreifachte sich, während alle anderen Affen um uns herum mehr oder weniger auf gleichem Niveau blieben. Irgendetwas ist da passiert, dessen Grund wir letztlich nicht kennen. Wir kennen bloß die Auswirkungen, deren vorläufiges Ergebnis die Zivilisation ist, in der wir jetzt leben.
So wie es aussieht, hat sich in dieser rasanten evolutionären Entwicklung des Menschen eine Art Spalt aufgetan, der zwar nicht groß genug war, eben diese Entwicklung zu stoppen oder wesentlich zu beeinflussen, aber doch heute offen zu Tage tritt und für das Leben des Menschen ein echtes Problem darstellen kann: Wir haben dank unseres gewaltigen Gehirns gelernt, denkend in unsere Selbstwahrnehmung einzugreifen, und mit unserem fantastischen neuen Großhirn in Aufgaben unseres Kleinhirns, des motorischen und sensorischen Zentrums, einzugreifen (Also genau das, was der Tausendfüßler zum Glück (für ihn) nicht kann). Mehr noch: dank des limbischen Systems, welches für Erinnerung, v.a. emotionale Erinnerung, zuständig ist, können wir die Gedanken, mit denen wir in unser Bewegungszentrum eingreifen, sogar abspeichern und unbewusst verfügbar halten, d.h. diese Gedanken können dann von Emotionen und Erinnerungen ausgelöst werden, ohne dass wir sie selbst noch aktiv denken müssen.
Was hier geschieht, ist also eine Vermischung von Kleinhirn- und Großhirnaktivität, von sensorisch-motorischer Selbststeuerung und abstraktem, strategischen Denken. Das Problem: Unser Kleinhirn hat schon lange, bevor es das Großhirn bzw. den Frontalcortex überhaupt gab, ganz wunderbar für sich allein funktioniert, dafür ist es ja gemacht bzw. geworden. Das abstrakte Denken war dann zwar ein evolutionärer Vorteil, minderte indirekt aber unsere sensorisch-motorischen Fähigkeiten ungemein. Wir können zwar Denken wie die Weltmeister, Raketen bauen und komplizierte Blog-Texte verfassen, hinken aber motorisch im wahrsten Sinne des Wortes hinterher und bewegen uns eigentlich viel weniger gut als all unsere Nachbarsaffen, Katzen und Tausendfüßler, obwohl das hirnphysiologisch überhaupt nicht notwendig wäre – das Kleinhirn ist ja nach wie vor da.
Diesen Konflikt bringt der Weisheitslehrer Barry Long auf den Punkt, wenn er sagt: „You cannot think when you are in your senses“. In einer Weise scheint das wie das genaue Gegenteil des Alexanderschen „Thinking in movement“, ist aber nur folgerichtig, wenn wir unsere biologische Entwicklung betrachten. Der Mensch ist ein zwiegespaltenes Wesen geworden: Der Denker und der „Fühler“ sind zwei recht unabhängig voneinander agieren könnende Teile des einen Wesens. Das fiel auch schon Johann Wolfgang von Goethe auf, den ich hier kurz einwerfen mag (aus Faust):
Zwei Seelen wohnen,
ach! in meiner Brust,
die eine will sich von der andern trennen:
Die eine hält in derber Liebeslust
sich an die Welt mit klammernden Organen;
die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
zu den Gefilden hoher Ahnen.
Was tun wir nun mit diesem Konflikt? Offensichtlich scheint wohl, dass das althergebrachte Alexandersche „Denken in Bewegung“ die Lage eher verschlechtert. Eine Alexandertechnik-Lehrerin hörte ich das Wort „Thoving“ bzw. „Minking“ benutzen, um die Verschmelzung von Denken und Bewegung als eine erstrebenswerte Qualität auszudrücken. Damit wird also versucht, die Funktionen von Groß- und Kleinhirn irgendwie miteinander zu verschmelzen und in Einklang zu bringen, ohne zu beachten, dass diese beiden Gehirnteile ja aus gutem Grund zwei sehr unterschiedliche Bereiche mit sehr unterschiedlichen Funktionen sind.
Es muss also klar sein: Das Denken gehört zum Denken, und das Fühlen, Wahrnehmen (Propriozeption) und Koordinieren gehört nicht zum Denken. Wenn ich meinen Körper optimal koordinieren will, darf ich dabei nicht denken, weil ich dann nicht fühle, was ich tue. Wenn ich fühlen will, wie und wo und was mein Körper ist, darf ich nicht darüber nachdenken, was ich fühle. Ich muss es einfach fühlen, so wie ein Regenwurm sich fühlt und sich deshalb auch bewegen kann, aber nicht darüber nachdenkt. Das ist unser sensorisch-motorisches evolutionäres Vermächtnis, welches in jedem Körper nach wie vor vollständig angelegt ist. Wir benutzen es bloß nicht mehr so viel, und da dem Denken in unserer Zivilisation so viel mehr Wert beigemessen wird als dem Fühlen, gibt es im Alltag insgesamt wenig Anlass, diesen Teil unseres Wesens mit- und weiter zu entwickeln.
Barry Long’s Version der Alexandertechnik könnte also in etwa lauten: „Stop thinking while moving!“
In meinem Verständnis von Alexandertechnik geht es also nicht darum, Denken und Fühlen/Bewegen zusammen zu bringen, sondern zu erkennen, dass sie von Grund auf und von Natur aus verschiedene Dinge sind. Wenn ich lerne, meinen Körper sich selbst bewegen zu lassen, ohne mit meinem Frontalkortex in diese Abläufe einzugreifen, dann kann er sich selbst optimal koordinieren. Wenn ich mich von Alexander’s „quicken the thinking!“ löse und stattdessen meinem Körperbewusstsein den Raum gebe, den es zum Funktionieren braucht, kann ich das volle Potential meines menschlichen Gehirns erst nutzen. Das ist der Schritt vom Denken zur Intelligenz. Unser ureigenes Wesen ganz, d.h. in allen Teilen, anzuerkennen, ist der intelligenteste Weg, uns selbst gut zu gebrauchen, und das Denken loszulassen, der Anfang tatsächlicher menschlicher Intelligenz.
Der Alexanderlehrer unterstützt diesen Prozess, der letztendlich nur in jedem Lernenden selbst stattfinden kann, indem er darauf aufmerksam macht, wo überall Denkstrukturen in die eigentliche Bewegung eingreifen, vor allem unbewusste, an Emotionen und Erinnerungen gekoppelte Denkstrukturen, die sich der bewussten Aufmerksamkeit des Lernenden naturgemäß entziehen.
So kann mit der Zeit eine Art Rückerinnerung stattfinden an unsere eigentliche biologische und wesenhafte Struktur: Wir können und dürfen Denken UND Fühlen, wir haben das Erbe der perfekten Koordination aller Säugetiere in uns, und gleichzeitig die einzigartige Fähigkeit zu abstraktem Denken auf Ebenen, von denen kein anderes Säugetier auch nur zu träumen wagt.