… oder Die Kunst auf zwei Füßen zu stehen
Immer wieder werde ich gefragt, was die Alexandertechnik eigentlich bei Rückenschmerzen tun kann, und auch in meine Praxis kommen Menschen mit Rückenschmerzen aller Art: Mit steifem Nacken, Schulterschmerzen, Bandscheibenleiden und anderen Rückenbeschwerden.
Die erste und eigentlich so offensichtliche Frage, die ich mir selber stelle, wenn jemand mir von seinem Rückenleiden berichtet, ist: Warum hat dieser Mensch Rückenschmerzen? Oder: warum hat er sich den Rücken oder die Bandscheibe verletzt? Und die Antwort ist oft nicht: “Weil ich diesen Wassereimer angehoben habe” oder “weil ich mich beim Skifahren verletzt habe”, und auch nicht “weil ich jeden Tag 8 Stunden im Büro sitze”. Die eigentliche Antwort kann tiefer liegen, und das, was wir als den Auslöser unseres Problems sehen, ist oft nur ein Hinweis auf die Strukturen, die unseren Schmerzen zugrunde liegen.
Insofern ist die für mich interessante Frage hier nicht wie mache ich es (=das Problem) weg?, sondern wo kommt es her? Daher bin ich auch kein großer Fan von Rückengymnastik oder Muskelübungen, die das alleinige Ziel haben, Rückenschmerzen zu eliminieren. Ein starker Rücken kann sich selbst auch stark schaden, wenn wir ihn falsch, das heißt entgegen seiner eigentlichen Funktion, benutzen.
Die menschliche Wirbelsäule ist das zentrale Balance- und Stabilitätssystem des Körpers in aufrechter Haltung, und in diesem Sinne biologisch einzigartig – bei keinem anderen Wirbeltier muß sie eine so filigrane und präzise Steuerung der aufrechten Haltung und des aufrechten Gangs ermöglichen. Sie hält das Gewicht des Torsos ausgeglichen über dem Becken und den Beinen, jongliert den Kopf wie einen Ball auf ihrer obersten, dünnen Spitze und koordiniert dieses komplexe Verhältnis sogar in Bewegung, im Laufen, Springen und Tanzen. Wenn wir die Arme nach vorn strecken, verlagert der Rücken unser Gewicht automatisch exakt genau so weit nach hinten, daß wir nicht nach vorne umfallen. In der Regel bemerken wir dieses perfekt agierende System nicht einmal.
Was geschieht nun, wenn wir, bewußt oder unbewußt, in diese natürliche und von unserem Nervensystem autonom gesteuerte Balance eingreifen? Wenn wir beispielsweise den Kopf weiter nach vorn strecken, als es der Körperbalance entspricht? Genau das Gleiche wie im Beispiel mit den Armen – der Rücken muß mit Muskelkraft die Balance nach hinten verlagern. Was geschieht nun aber, wenn wir den Kopf ständig zu weit vorne tragen (z.B. weil wir glauben, dann besser sehen zu können. z.B. am Computerbildschirm)? Der Rücken muß ständig kompensieren, es kommt also zu einer chronischen Muskelspannung, die die Wirbelsäule statt in ihrer Mitte ein klein wenig neben ihrer natürlichen Balance halten muß. Wenn solch ein Zustand langsam entsteht und dann über lange Zeit bleibt, reagiert unser Nervensystem darauf nicht mehr, wir fühlen diese Verschiebung also nicht. Eine Möglichkeit, diese Spannung noch wahrzunehmen, wäre vielleicht visuell (vor einem Spiegel), oder durch Feedback von Anderen (“Du stehst aber verspannt da!”). Alleine können wir sie nicht lösen, da wir ja nicht einmal spüren, daß wir sie verursachen.
Nun gibt es viele hundert Möglichkeiten, den eigenen Körper nachhaltig aus der Balance zu bringen, das Verschieben des Kopfes ist nur eine, wenn auch prominente Variante. Jedesmal, wenn wir uns an einer Stelle unbewußt und dauerhaft verspannen (z.B. die Schultern hochziehen, weil wir dann besser am PC tippen können, den Brustkorb rausstrecken, weil wir uns dann größer oder stärker fühlen, die Hüfte nach vorn schieben, weil uns das stabiler vorkommt, oder tausend andere Dinge), muß der Körper an einer anderen Stelle kompensieren, um nicht einfach umzufallen – diese Kompensation wird zur Normalität und wir spüren sie nicht mehr. Über die Zeit entstehen daraus Rückenschmerzen, deren Herkunft wir nicht mehr verstehen, weil nicht mehr wahrnehmen können.
Machen Sie einen einfachen Test – stellen Sie sich aufrecht auf beide Füße hin, und lassen Sie ihre Fußgelenke los. In welche Richtung fallen Sie um? Die Antwort ist unwichtig, aber interessant ist, daß wir in der Regel nur deswegen stehenbleiben, weil wir unsere Gelenke festhalten. Physiologisch ist ständiges Festhalten aber genau das, was ein Gelenk eben nicht tun soll – es soll Bewegung erlauben, dafür haben wir es ja. Weil wir aber andere Körperteile (bevorzugt den Nacken/Kopfbereich) chronisch festhalten, müssen die Fußgelenke eben dagegen halten, anstatt ihrer eigentlichen Funktion nachkommen zu können. Genau das Gleiche geschieht mit dem Rücken und genau genommen überall im Körper.
Hier wird die Alexandertechnik für mich zu einem komplexen und tatsächlich auch unterhaltsamen Puzzlespiel – wenn ich meinen Nacken loslasse, bringt mich das erstmal aus der Balance, weil irgendein anderer Teil ja immer noch kompensiert und mich jetzt plötzlich aus der Balance wirft. Also fühle ich, daß ich meinen Nacken festhalten muß, um stehen zu bleiben, was aber gar nicht stimmt: Ich muß bloß den Nacken UND noch irgendetwas anderes, z.B. die Hüfte, den unteren Rücken, die Schultern etc. loslassen. Daraus ergibt sich ein neues Verhältnis, eine neue Situation, und vermutlich werden sich im Lauf dieses Prozesses weitere Spannungsmuster zeigen. Je länger wir dieses Spiel spielen und lernen, die entsprechenden Spannungen zu unterlassen, um so mehr nähern wir uns der ursprünglichen, physiologisch gesunden Körperbalance, und um so freier, entspannter und schmerzfreier kann unser Rücken (und nebenbei der restliche Körper) werden.
Ich unterrichte die Alexandertechnik in Berlin-Neukölln. Bei Fragen oder für eine Terminvereinbarung können Sie mich gerne kontaktieren.