In der Alexandertechnik sprechen wir viel von “Richtungen” bzw. “Richtungen geben”. Was ist das eigentlich? Das englische Original-Wort “giving directions” kann sowohl “Richtung” als auch “Anweisung” bedeuten. Ich spreche in diesem Zusammenhang gerne von “Absicht” bzw. “Intent”.
Wenn wir einen anderen Menschen berühren, geschieht das mit einer Absicht, welcher Art auch immer. Der Mensch, der berührt wird, hat seinerseit auch Absicht(en), ist ein hochkomplexes Wesen aus Körper, Emotionen, Geist, Willen, Erinnerungen … Der Körper wird aus Intent (Absicht) geformt. Der ursprünglichste Intent in einem Menschenleben ist die Zeugung, die erste Zellteilung – die Absicht der Zelle, einen neuen Menschen zu schaffen. Die DNA ist ein Katalog von Absichten, die unseren Körper in der Form verwirklicht, wie wir ihn kennen. Außerdem wird unser Körper von unseren eigenen Gedanken geformt und gebildet, von unseren Erfahrungen, von dem, was und wie wir von Kindheit an lernen, “aufwachsen”. Unser gesamtes geistiges und seelisches Selbst spiegelt sich in der körperlichen Existenz wieder, und unser Körper ist unser Ausdruck unseres persönlichen Lebens und unseres Glaubens über uns selbst.
Insofern ist Berührung zwischen zwei Menschen einerseits eine Berührung von Körpern, andererseits eine Berührung von Absichten auf der nichtkörperlichen Ebene. In diesem Sinne funktioniert das “giving directions” in der Alexandertechnik: Wir berühren den Körper, treffen aber durch unseren Intent auf den Intent des Anderen. Und in dieser Berührung oder Begegnung wird der Intent beider Menschen offenbar, sicht- und spürbar. Wenn ich meine Hand auf die Schulter eines Anderen lege, und mein klarer Intent ist, daß die Schulter sich aus dem Rumpf heraus lösen darf statt sich hineinzuziehen, wird dieser Intent der Energie begegnen, die die betreffende Schulter bislang einzieht und fest macht. Dem Klienten kann in dem Moment bewußt werden, daß sein bisheriger (unbewußter!) Intent war, seine Schulter einzuziehen. In dem Augenblick des Bewußtwerdens bekommt er Entscheidungsfreiheit, kann den bisherigen Intent seines Körpers (der vielleicht eine Schutzreaktion auf Stress oder Angst war, oder aber etwas ganz anderes) betrachten und neu verhandeln. Es stehen ihm mindestens zwei Möglichkeiten offen: Bei seinem alten Muster zu bleiben, oder das Muster auszuprobieren, das ihm durch die Hand des Anderen angeboten wird. Außerdem könnte er auch etwas ganz Neues ausprobieren (was erfahrungsgemäß eher selten ist, aber vielleicht um so wertvoller).
In diesem Sinne ist Berührung in der Alexandertechnik nicht physisch manipulierend wie z.B. Massagetechniken oder Ostheopatische Verfahren, selbst wenn es sich für den Klienten manchmal so anfühlen kann. Der Alexandertechnik-Lehrer arbeitet nicht direkt an der (um-)Formung des physischen Körpers, sondern kommuniziert mit dem inhärenten Intent des menschlichen Körpers, sich selbst optimal auszurichten. Will heißen: Der Körper weiß, dank seiner DNA, sehr gut, wie er optimal funktioniert, welche Körperteile wohin gehören und wie miteinander bewegt werden. Durch unsere Erfahrungen, unser Lernen, unser Anpassen an unsere Umwelt aber überfahren und vergessen wir immer mehr von diesem ursprünglichen Wissen. Wir lernen “aufrecht zu sitzen”, und halten uns dementsprechend, selbst wenn unser Körper vielleicht etwas anderes möchte. Wir passen uns an die Anforderungen unseres Jobs an und sitzen 8 Stunden am Tag auf Stühlen, selbst wenn der Körper sich vielleicht eine ganz andere Bewegung wünscht. Wir ducken uns unbewußt vor dem Stress unseres Alltag weg und ziehen den Kopf ein, selbst wenn der Körper seinen Kopf eigentlich gerne aufrecht oben auf der Wirbelsäule hätte – aber wir fühlen das nicht mehr, wir haben uns blind gemacht für das, was wir ursprünglich hätten sein und werden sollen. In dem Moment, wo der (hoffentlich) klare Intent des Alexandertechnikers unserem eigenen unbewußten Intent begegnet, nehmen wir diese Dinge plötzlich wahr.
Hier ist die Alexandertechnik also ein (möglicher) Weg, wieder mehr in Kontakt mit dem eigenen Selbst zu kommen. Dadurch können sich viele chronische Verspannungen, Schmerzen und Probleme sehr leicht und ohne physische Eingriffe lösen. Gleichzeitig kann dieser Prozess auch sehr herausfordernd, und manchmal fast überfordernd sein: Wenn wir erleben, daß wir unseren Körper jahrelang anders wahrgenommen haben als er eigentlich ist, kann das unter Umständen Angst, Selbstzweifel und Trauer auslösen. Diese Reaktionen gehören zu diesem Bewußtwerdungs- und Heilungsprozess natürlicherweise dazu und lösen sich über kurz oder lang in mehr Leichtigkeit und Lebensfreude auf.