Fünf Prinzipien der Alexandertechnik

Patrick McDonald, direkter Schüler von F. M. Alexander und ein wichtiger Lehrer seiner Technik, stellte 5 Prinzipien auf, die seiner Ansicht nach das Wesen der Alexandertechnik darstellen. Ich übersetze die Bezeichnungen der Prinzipien hier nicht, erläutere sie aber aus meiner persönlichen Sicht, da ich sie in meiner eigenen Arbeit als hilfreich empfinde.

1) Recognition of the Force of Habit

Das ist der erste und wesentliche Schritt, um mit dieser Arbeit zu beginnen: Wir lernen zu erkennen, daß es eine sog. “Kraft der Gewohnheit” gibt, und daß sie auch auf uns wirkt, in jedem Augenblick und ausnahmslos. Gewohnheiten sind sämtliche bewußt oder unbewußt erlernten Muster, die wir in uns tragen, sowohl körperlich als auch mental. Unsere Körperhaltung ist möglicherwesie von unseren Eltern inspiriert, als wir Laufen lernten und versuchten, die Erwachsenen in unserer Umgebung nachzuahmen. Unser Selbstbild ist geprägt von der Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind, unser Wissen von der Schule, die wir besucht haben, unsere Meinungen von Diskussionen, die wir geführt haben und unsere Ängste von Erlebnissen, die wir im Lauf unseres Lebens hatten.

Zu wieviel Prozent ist unser Verhalten, unsere Weltbild und selbst unser körperlicher Zustand Produkt unserer eigenen, freien Entscheidungen, und zu wieviel Prozent Ergebnis von äußeren Einflüssen?

Allein der Mut, sich dieser Frage zu stellen, öffnet eine Tür in einen neuen Raum von Wahrnehmung, von Ehrlichkeit mit mir selbst und der Möglichkeit, nach Veränderung überhaupt zu suchen. Dies ist der Ausgangspunkt unserer Reise: Wenn wir nicht wissen, wo wir sind, ist es essentiell, zumindest dieses Nichtwissen zu akzeptieren. Solange wir glauben, irgendwo zu sein, können wir keinen vernünftigen Versuch machen, einen Weg zu finden, der irgendwo hinführt, wo wir vielleicht hin wollen.

2) Inhibition & Nondoing

“Inhibition” im Sinne Alexanders ist das Nicht-Reagieren auf einen Stimulus. Das ist nicht so einfach wie es klingt: Sicherlich kann ich zum Beispiel einem Befehl, der mir gegeben wird, nicht gehorchen. Aber ist das wirklich Nicht-Reagieren? In den meisten Fällen reagiere ich eben doch, wenn ich ehrlich zu mir bin. Vielleicht reagiere ich abwehrend und führe den gegebenen Befehl nicht aus, oder entscheide, mich taub zu stellen. In jedem Fall ist mein Geist und mein Nervensystem beschäftigt damit, diesen Befehl zu verarbeiten, und reagiert darauf mit den Reaktionsmöglichkeiten, die ich mir selber zurechtgelegt habe oder zugestehe. So werde ich manche Reaktionen vielleicht von vornherein ausschließen (z.B. den Befehlenden anzuschreien oder zu erschießen), andere liegen mir sehr nah (weil ich sie z.B. aus meiner Kindheit kenne), an manche denke ich gar nicht erst.

Vollständige Inhibition bzw. “Nondoing” (Nicht-tun) erleben wir wenn wir einen Sack Reis anschreien. In der Regel wird er in keiner Weise reagieren und ungestört mit seiner üblichen Tätigkeit fortfahren, nämlich ein Sack Reis zu sein. Da der Mensch leider (!) sehr viel komplexer strukturiert ist als ein Sack Reis, fällt es uns auch sehr viel schwerer, sehr einfache Dinge wie z.B. Inhibition praktisch umzusetzen. Wir sind in Wirklichkeit sogar ständig und ohne Unterlaß damit beschäftigt, auf Stimuli aus unserer Umwelt irgendwie zu reagieren, und erlauben uns kaum, unser ur-eigenes Wesen und Lebendigsein zu erleben, also uns selbst zu sehen, wie wir wären, wenn wir grade nicht auf etwas anderes reagieren oder Bezug nehmen würden.

Zen-Meditation ist ein Weg, in Inhibition zu sein und “Nondoing” zu praktizieren. Meditation erlaubt uns, uns selbst anzuschauen, wie wir ohne den ständigen und störenden, zumindest aber beeinflussenden, Input aus unserer Umwelt wären und existierten. Allerdings wählt der Meditierende dafür in der Regel Stille und Abgeschiedenheit. Alexanders Idee war, Inhibition genau in der Bewegung, im Tun und Lebendigsein zu entwickeln und erleben. Seine Annahme war, daß der Mensch natürlicherweise ein sich bewegendes, erlebendes und interagierendes Wesen ist. Wie passen aber demnach Interaktion und Selbstwahrnehmung zusammen?

3) Recognition of Faulty Sensory Awareness

Was ist eine “fehlerhafte Sinneswahrnehmung”? Ganz einfach die Tatsache, daß die Dinge nicht immer das sind, was sie zu sein scheinen. Leider, aber offensichtlich gilt das auch für uns selbst: Wir sind nicht immer das, was wir zu sein glauben, und wir tun nicht immer das, was wir zu tun glauben. Warum ist das so? Alexander sagt: Weil wir uns so mit unseren Gewohnheiten identifizieren, daß wir annehmen, wir seien, was wir gelernt haben (statt was wir tatsächlich sind), und nehmen daher mit unseren Sinnen quasi aus den Augen dessen wahr, der wir glauben zu sein, auch wenn das gar nicht stimmt.

Praktisches Beispiel: Wenn ich “gelernt” habe, meinen Kopf nach vorne zu schieben, z.B. um mich zu ducken und klein zu halten (vielleicht aus Angst vor einem strengen Vater?), dann ist diese Haltung mir über die Jahre so vertraut geworden, daß ich sie als “natürlich” wahrnehme. Wenn ich stehe, fühle ich mich “aufrecht”, auch wenn jeder Außenstehende mich als schief oder vornübergebeugt beschreiben würde, und die schlichte Tatsache, daß ich nicht umfalle, bestätigt mir meinen Eindruck noch. Wenn mich nun jemand anleiten würde, tatsächlich aufrecht zu stehen, d.h. mit dem Kopf über den Schultern anstatt davor, würde ich mir sehr verbogen und unbalanciert vorkommen und reflexhaft zu meiner gewohnten Haltung zurückkehren, da ich mich dort sicher fühle.

So erzeugen unsere Gewohnheiten einerseits die “fehlerhafte Sinneswahrnehmung”, andererseits verstärkt letztere unsere Gewohnheiten und macht es uns praktisch unmöglich, sie zu verändern. Was tun?

4) Sending Directions

“Anweisungen geben” ist ein ziemlich technischer und wenig poetisch anmutender Begriff, ganz im Gegenteil zu seiner Bedeutung, so wie ich sie verstehe. Im Grunde können wir sagen, daß “Anweisungen geben” einfach das Gegenstück zu “Anweisungen erhalten” ist, also zu dem unter 2. beschriebenen unvermeidlichen Reagieren auf Impulse. Wenn ich mir selbst eine Anweisung gebe, übernehme ich Kontrolle über (und Verantwortung für) mich selbst. Rudolf Steiner beschreibt in der “Philosophie der Freiheit” eindrücklich, daß die Fähigkeit, aus uns selbst heraus Entscheidungen für uns selbst zu treffen und danach zu handeln, den Kern unseres freien und verantwortlichen Handelns ausmacht, uns also letztendlich zu Menschen macht, die nicht nur maschinenhaft Ausführende sind, sondern selbst-schaffend, kreativ und in desem Sinne “frei”sein dürfen und können.

In seinen früheren Schriften beschreibt Alexander das “sending directions” als rein technische Abfolge von bestimmten Anweisungen, die er sich selber gibt. Das ist zwar wenig poetisch, beschreibt aber bei genauerem Hinsehen genau dies: Wie können wir denn, wenn wir so von Gewohnheiten durchdrungen sind, daß wir uns selbst gar nicht akkurat wahrnehmen können, uns überhaupt eine Anweisung geben und dabei sicher sein, daß diese von uns selbst stammt und nicht von unserem “Gewohnheits-Selbst”? Die simple Tätigkeit einer Anweisung für uns selbst wie z.B. Alexander’s “Ich erlaube meinem Kopf, sich nach vorne und oben auszurichten” ist ein geradezu dramatischer Akt von Selbstermächtigung, wenn er denn tatsächlich aus einer freien Entscheidung heraus geschieht und nicht als Reaktion auf einen äußeren Impuls (wie z.B. der elterliche Befehl “Sitz gerade!”). Wie aber können wir uns darüber sicher sein?

Meine Erfahrung sagt mir, daß wir das nicht können. Was wir tun können, ist, uns in dieses Spiel, diesen Tanz der Auseinandersetzung mit uns selbst einzulassen, und das reicht völlig aus, um einen innerlichen Lernprozess anzustoßen. Wir werden immer irgendwo “fehlerhafte Sinneswahrnehmungen” haben, immer irgendwo automatisch auf Impulse von außen reagieren, und immer irgendwie von unseren Gewohnheiten geprägt bleiben. Aber wir können uns darüber bewußter werden, vielleicht öfters erkennen, wenn wir grade wieder ungewollt und unbewußt reagieren, und so ein bischen klarer über uns selbst werden, weniger reaktiv und abhängig von unserer Umwelt und etwas mehr fähig, wirklich eigene Entscheidungen zu treffen und “Anweisungen zu geben”.

5) Primary Control

Mit “Primärkontrolle” beschrieb Alexander ein bestimmtes Verhältnis von Kopf, Nacken und Rücken zueinander.  Auch das wieder klingt sehr anatomisch, es sei denn, wir schauen auf die diesem Verhältnis zu grunde liegenden Faktoren.

Jede unwillkürliche, unbewußte oder ungewollte Reaktion auf einen äußeren Impuls geht mit einer körperlichen Reaktion einher. Wenn ich von jemandem gerufen werde, schrecke ich auf, wenn ich bedroht werde, ducke ich mich, wenn ich über ein Problem nachgrüble, kauere ich mich zusammen. In jedem Fall löst der Impuls unser grundlegendes Angstreaktionsmuster aus, auch wenn wir in den meisten Situationen keine bewußte Angst spüren. Jede Anforderung von außen verunsichert uns, und sei es nur für einen winzig kleinen Moment und ohne daß wir das bemerken würden. Jede Verunsicherung aber beeinflußt auf der körperlichen Ebene die Koordination von Kopf, Nacken und Rücken. Dieser uralte “primäre Angstreflex” war im Lauf der Evolution des Menschen nützlich und überlebenswichtig, da er einen “Stopp”-Befehl durch den ganzen Organismus sandte, sobald eine Gefahr erkannt wurde. Jede Antilope in der Savanne reißt noch heute instinktiv ihren Kopf in den Nacken, sobald sie ein Zeichen  von Gefahr wittert.

In einer Zeit voll ständiger Eindrücke von außen, medialer Überflutung, stressvoller Kommunikation und stetiger Ansprüche, die an uns gestellt werden, löst dieser Angstreflex im Grunde ständig aus und wird damit zur Gewohnheit. Wir nehmen ihn nicht mehr wahr und halten unsere angespannte Grundeinstellung für “normal”, für natürlich.

Alexanders geniale Entdeckung war, daß der Angstreflex, wie er sich im Nackenbereich manifestiert, in beide Richtungen beeinflußbar ist: Unsere Reaktionen beeinflussen unseren Nacken, aber unser Nacken beeinflußt auch unsere Reaktionen. So begann Alexander, mit seinen Händen zu arbeiten und seinen Klienten durch Berührung zu zeigen, wie sich ein “freier”, d.h. nicht angespannter Nacken anfühlt. Solange der Nacken des Klienten sich in diesem gelösten Zustand befindet, ist es ihm nicht möglich, in den Angstreflex zu verfallen, bzw. sobald er das doch tut, wird der Nacken sich wieder verkürzen; allerdings wird dem Klienten dies nun, aufgrund der Berührung, bewußt werden.

So ist es mit der Alexandertechnik möglich, auf eine sehr simple Art sehr komplexe und weitgreifende körperliche und seelische Anspannungen bewußt zu machen. Mir fällt ein Beispiel aus meiner eigenen Arbeit ein, wo es für eine Klientin, wenn ich ihren Nacken, während sie stand, in einer entspannten Lage hielt, es unmöglich wurde, sich auf einen Stuhl zu setzen. Der Impuls, sich zu setzen, war für sie so sehr  mit innerlichem Stress oder Unsicherheit verbunden, daß sie ihren Nacken dabei jedesmal einziehen musste. Als wir es schließlich doch fertigbrachten, daß sie sich mit einem nicht zusammengezogenen Nacken auf den Stuhl setzen konnte, war das für sie eine vollkommen neue und tief berührende Erfahrung.

Die “Primäre Kontrolle” funktioniert dann, wenn wir mit einem freien und entspannten Verhältnis von Kopf, Nacken und Rücken durchs Leben gehen können, das heißt, wenn wir nicht hilflos den Impulsen aus unserer Umwelt ausgeliefert sind und darauf reagieren müssen. Einerseits ist sie also ein Ausdruck vom Funktionieren der vorigen vier Prinzipien, andererseits ein Werkzeug, um (zumindest Aspekte) der übrigen Prinzipien zu erfahren und zu erlernen.

Leave a Reply